Gegründet 1834 von Georg Büchner
5. Neuausgabe








DER HESSISCHE LANDBOTE
DIE HESSISCHE WAHRHEIT OHNE GRENZEN  •  TRADITIONSBEWUSST
Unter der Schirmherrschaft der Deutschen Kulturstiftung
Aar Edition zahlt
Seite 429
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PETER HÜBNER • PREIS DER FREIHEIT – DAS PROGRAMMIERTE VIERTE REICH
Die antidemokratische politische Praxis in Deutschland
Teil 3   •   VERTRETER DES VOLKES – Die Goldene Partei Deutschlands
Ein „deutsches“ Nach-Richten-Magazin erblickt sein eigenes Spiegel-Bild


Aus die­sem Grun­de wird auch die heu­ti­ge christ­li­che Kir­che als Ver­tre­te­rin ei­nes rein re­li­gi­ö­sen Glau­bens durch ei­ne Wie­der­be­le­bung un­se­rer wahr­lich an­ge­stamm­ten Deut­schen Tra­di­ti­on, Kunst und Kul­tur zu­min­dest ideo­lo­gisch nicht be­rührt, und sie könn­te es sich des­halb – ganz ent­ge­gen ih­rer bis­he­ri­gen Kir­chen­pra­xis – ein­mal zu ih­rer „hei­li­gen“ Pflicht ma­chen, die un­ter dem Schutz un­se­rer De­mo­kra­tie sich voll­zie­hen­de Be­rüh­rung des Deut­schen mit sei­ner na­tür­li­chen Men­schen­wür­de zu för­dern.

Ob­wohl uns die Ge­schich­te zur äu­ßers­ten Vor­sicht ge­mahnt ge­gen­über ei­ner Or­ga­ni­sa­tion und ih­ren Ver­bün­de­ten, wel­che un­se­re an­ge­stamm­te deut­sche Tra­di­tion über bei­na­he 2000 Jah­re hin­weg bis auf den heu­ti­gen Tag, wenn auch viel­leicht un­ter Ein­schlie­ßung viel­fäl­ti­ger Miß­ver­ständ­nis­se, ver­un­glimpft hat und die sys­te­ma­ti­sche Zer­stö­rung un­se­rer wahr­lich er­erb­ten Kunst und Kul­tur ei­ner ho­hen Sitt­lich­keit ge­zielt vor­wärts­trieb – was un­zäh­li­ge Do­ku­men­te be­wei­sen –, kön­nen wir da­von aus­ge­hen, daß die mit die­ser In­sti­tu­tion be­haf­te­ten Deut­schen zu­min­dest heu­te in un­se­rer auf­ge­klär­te­ren Zeit bei sich selbst mehr Ge­dan­ken­frei­heit zu mo­bi­li­sie­ren ver­mö­gen, als dies in frü­he­ren Zei­ten und be­son­ders im Mit­tel­al­ter mög­lich und er­laubt war.

Wir wür­den die­se längst ver­gan­ge­nen und we­nig er­freu­li­chen ge­schicht­li­chen Er­eig­nis­se je­nes tra­gi­schen Ver­lus­tes un­se­res deut­schen Kul­tur­er­bes hier nicht an­rüh­ren, wenn wir nicht in der letz­ten Zeit ver­schie­dent­lich die Er­fah­rung ge­macht hät­ten, daß die Wie­der­be­le­bung un­se­rer al­ten und von un­se­ren Vä­tern und Müt­tern über vie­le Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg sorg­sam ge­hü­te­ten ho­hen sitt­li­chen Kunst- und Kul­tur­tra­di­tion im­mer noch von der christ­li­chen Kir­che – und in­te­res­san­ter­wei­se so­wohl von der rö­misch-ka­tho­li­schen als auch von der evan­ge­li­schen Kir­che – als ei­ne Re­li­gi­on miß­in­ter­pre­tiert wird, und wenn wir nicht an­neh­men müß­ten, daß so­gar die ver­schie­dens­ten Re­gie­rungs­or­ga­ne auf Bun­des- und auf Lan­des­ebe­ne be­nutzt wer­den, un­ser deut­sches Kul­tur­er­be wie eh und je zu ver­un­glimp­fen.

„Viele, die die schändlichsten Dinge tun,
führen die trefflichsten Reden.“
Demokrit


Um ei­nem Miß­ver­ständ­nis vor­zu­beu­gen, soll ein­mal an ei­nem Bei­spiel ver­deut­licht wer­den, was un­se­re Vor­fah­ren un­ter ei­nem „sitt­lich ge­bil­de­ten Men­schen“ ver­stan­den und wie sich die Er­geb­nis­se ih­rer von ho­her Sitt­lich­keit ge­präg­ten wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Aus­bil­dung im prak­ti­schen Den­ken und Han­deln des ein­zel­nen aus­wirk­ten:

Wenn wir uns heu­te ir­gend et­was „ver­ge­gen­wär­ti­gen“ – wenn wir uns bei­spiels­wei­se „vor­stel­len“, ins kal­te Was­ser zu sprin­gen, dann wis­sen wir wohl in­tel­lek­tu­ell, daß wir im kal­ten Was­ser frie­ren, aber den­noch ma­chen wir bei un­se­rer in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lung noch nicht die prak­ti­sche Er­fah­rung des Frie­rens.

Beim Träu­men ver­hält es sich schon an­ders: Wenn wir in un­se­rem Traum ins kal­te Was­ser sprin­gen, dann kön­nen wir sehr wohl die Er­fah­rung ma­chen, daß wir frie­ren – ob­wohl wir aber in Wirk­lich­keit in un­se­rem war­men Fe­der­bett lie­gen und kei­nes­falls frie­ren –, wir kom­men dort mit Was­ser nicht ein­mal in prak­ti­sche Be­rüh­rung.

Dar­aus kön­nen wir schlie­ßen, daß uns die Fä­hig­keit zur kon­kre­ten Er­fah­rung ei­ner in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lung sehr wohl mit­ge­ge­ben ist – daß es uns im Wach­be­wußt­sein aber den­noch üb­li­cher­wei­se nicht ge­lingt, die le­ben­di­ge Er­fah­rung des­sen zu ma­chen, wor­über wir ge­ra­de in un­se­rem Geis­te nach­den­ken.

Doch un­se­re gro­ßen Künst­ler be­rich­ten uns, daß sie bei ih­rer Tä­tig­keit ge­ra­de auch in ih­rem Wach­be­wußt­sein sehr wohl die le­ben­di­ge Er­fah­rung des­sen ma­chen, was sie sich vor­stel­len. Un­se­re gro­ßen Dich­ter be­rich­ten, daß sie wäh­rend ih­res Dich­tens al­les höchst­le­ben­dig und wirk­lich­keits­nah er­le­ben – so als wür­de es ge­ra­de tat­säch­lich pas­sie­ren.

Und un­se­re gro­ßen Ton­dich­ter sa­gen, daß sie beim Kom­po­nie­ren das gan­ze Kon­zert in ih­rer in­ne­ren Vor­stel­lung wirk­lich auf­füh­ren.

Wenn der ein­zel­ne von uns bei sei­nen nor­ma­len, all­täg­li­chen Über­le­gun­gen nicht die ganz le­ben­di­ge, über­wäl­ti­gen­de, of­fen­ba­rungs­ar­ti­ge Er­fah­rung des­sen macht, was er sich ge­ra­de vor­stellt, dann be­zeich­nen un­se­re gro­ßen Mu­si­ker, Dich­ter und Den­ker dies all­ge­mein als ein höchst man­gel­haft aus­ge­bil­de­tes Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, oder sie nen­nen es auch: ei­ne we­nig ent­fal­te­te Phan­ta­sie.
Die Zeug­nis­se al­ler gro­ßen ge­ni­a­len Per­sön­lich­kei­ten un­se­rer deut­schen Ge­schich­te be­kun­den, daß sie ih­re Dich­tun­gen voll­kom­men wirk­lich­keits­nah er­le­ben – so, wie der im Vor­stel­lungs­ver­mö­gen Un­ge­üb­te dies nur in sei­ner Um­ge­bung er­lebt oder im Traum – lei­der je­doch nicht bei sei­nen all­täg­li­chen Über­le­gun­gen.

Un­se­re gro­ßen Ge­nies be­rich­ten, daß der im geis­ti­gen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen ge­üb­te oder ge­bil­de­te Mensch sich bei­spiels­wei­se ei­ne The­a­ter­vor­stel­lung er­spa­ren kann, denn er kann sich die Hand­lung al­lein schon kraft sei­ner aus­ge­bil­de­ten Phan­ta­sie voll­stän­dig ver­ge­gen­wär­ti­gen.
Der durch­schnitt­lich Ge­bil­de­te kann dies al­len­falls von sei­nen Träu­men be­haup­ten – kei­nes­falls je­doch von sei­nem nor­ma­len Den­ken.

Nun ge­hört es erst ein­mal vor­ran­gig zur sitt­li­chen Aus­bil­dung un­se­rer Vor­fah­ren, daß sie sich sys­te­ma­tisch und ganz ge­zielt in der geis­ti­gen Er­leb­nis­fä­hig­keit schul­ten, daß sich der ein­zel­ne al­so üb­te, all das, was er sich so vor­stell­te oder was er ge­ra­de er­dach­te, auch ganz voll­kom­men zu er­le­ben – so, wie wenn es tat­säch­lich ge­sche­hen wür­de.

Dies be­deu­tet na­tür­lich nicht, daß un­se­re Vor­fah­ren sich et­wa ein­ge­bil­det hät­ten, daß das, was sie sich ge­ra­de er­dach­ten, sich vor­stell­ten und da­bei ganz le­ben­dig er­leb­ten, nun auch tat­säch­lich im ma­te­ri­a­lis­tisch-phy­si­schen Sin­ne pas­sier­te – wie der Ver­blen­de­te dies viel­leicht un­ter­stellt. Ganz wie die ge­ni­a­len Dich­ter der Büh­nen­kunst wa­ren sie sich bei dem Er­le­ben je­ner von ih­nen frei er­dach­ten Hand­lun­gen durch­aus der Tat­sa­che be­wußt, daß es sich hier­bei nur um ein geis­tig-sinn­li­ches Er­le­ben han­del­te – wel­ches sie zu je­der Zeit kraft ei­ge­ner Ent­schei­dung nach frei­em Ent­schluß ab­zu­än­dern oder zu be­en­den ver­moch­ten.

Doch hat solch ho­he Er­leb­nis­fä­hig­keit sitt­li­che Kon­se­quen­zen für das Han­deln des ein­zel­nen. Des­halb kon­zen­trier­ten sich un­se­re Vor­fah­ren bei ih­rer sitt­li­chen Aus­bil­dung auch erst ein­mal auf die Schu­lung ih­rer in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lungs­kraft.

Und den prak­ti­schen Nut­zen sol­cher ge­ziel­ter geis­ti­ger Übun­gen für den ge­sell­schaft­li­chen All­tag wol­len wir uns an dem fol­gen­den ein­fa­chen Bei­spiel ein­mal vor Au­gen füh­ren:

Be­trach­ten wir den kras­sen Fall des Schla­gens: Ei­ner schlägt ei­nen an­de­ren und tut die­sem weh – er macht beim Schla­gen nicht selbst die Er­fah­rung des Ge­schla­gen­wer­dens und des Schmer­zes, wel­chen der an­de­re durch die Schlä­ge ver­spürt.

Der in sei­ner geis­ti­gen Vor­stel­lungs­kraft Ge­üb­te je­doch macht al­lei­ne schon bei sei­ner geis­ti­gen Vor­stel­lung, daß er den an­de­ren schlägt, so­wohl die le­ben­di­ge Er­fah­rung, daß er schlägt – aber auch gleich­zei­tig die un­an­ge­neh­me Er­fah­rung, daß er ge­schla­gen wird.

Und dies hat dann na­tür­lich für sein tat­säch­li­ches äu­ße­res Han­deln weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen: er ist sich des Aus­ma­ßes sei­ner Hand­lung und vor al­lem: der da­mit ver­bun­de­nen Er­fah­rung voll­stän­dig be­wußt: er er­lebt die gan­ze „Ge­schich­te“ mit­samt al­ler Er­fah­run­gen schon in sei­ner Vor­stel­lung so klar und deut­lich, daß ihm dar­auf­hin je­ne tat­säch­lich durch­ge­führ­te phy­si­sche Hand­lung zu­min­dest in sei­nem ei­ge­nen per­sön­li­chen Er­le­ben kei­nen neu­en Ein­druck lie­fern wür­de.
Er macht al­so al­lei­ne bei sei­ner in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lung, daß er schlägt, auch schon gleich die ganz kon­kre­te, für ihn völ­lig re­a­le Er­fah­rung, daß er ge­schla­gen wird.

Und so ver­pflich­tet ihn die­se un­an­ge­neh­me Er­fah­rung des Ge­schla­gen­wer­dens bei sei­nem ers­ten Ge­dan­ken­gang, an­ders zu den­ken.
Und auf die­ser Grund­la­ge wird er dann folg­lich auch an­ders han­deln; denn kein Mensch kann han­deln, ohne erst ein­mal zu den­ken. Je­de Hand­lung wird vor­her durch­dacht.

Des­halb ist das sitt­li­che Aus­bil­dungs­sys­tem un­se­rer Vor­fah­ren so an­ge­legt, daß es dem ein­zel­nen schon al­lei­ne beim ers­ten Über­le­gen ei­ner Hand­lung die voll­stän­di­ge ei­ge­ne Er­fah­rung des Han­delns ver­mit­telt – ihm aber da­mit auch gleich­zei­tig das voll­stän­di­ge Er­le­ben an­de­rer an die­ser Hand­lung Be­tei­lig­ter mit­lie­fert.
Aus die­sem Grun­de wird es schließ­lich das ganz na­tür­li­che Be­mü­hen des ein­zel­nen sein, ei­ne je­de sei­ner Hand­lun­gen schon im An­satz sei­nes Den­kens so zu pla­nen, daß nie­mand von der Hand­lung ver­letzt wer­den kann – denn nur so bleibt auch ihm selbst das Er­le­ben sei­ner ei­ge­nen Ver­let­zung wäh­rend sei­ner Pla­nun­gen er­spart.

Hier­in liegt der tra­di­tio­nel­le sitt­li­che Schlüs­sel un­se­rer Vor­fah­ren für die so­zia­le Aus­bil­dung.
Ei­ne schwa­che An­deu­tung von die­sem Ver­mö­gen, sich in die La­ge ei­nes an­de­ren voll­stän­dig hin­ein­zu­ver­set­zen, fin­den wir noch in den Wor­ten „Mit­ge­fühl“ oder „Mit­leid“ vor.
Aber das tat­säch­li­che Er­le­ben des ge­sam­ten Aus­ma­ßes un­se­res Han­delns – nur al­lei­ne auf­grund un­se­rer in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lung – ist uns mit dem Ver­lust der tra­di­tio­nel­len sitt­li­chen Aus­bil­dungs­pro­gram­me un­se­rer Vor­fah­ren ab­han­den ge­kom­men.








Mit freundlicher Genehmigung des HESSISCHEN LANBOTEN
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